Pile-up-Daten sinnvoll verwertet
Forscher Steven Schramm und sein Team von der Universität Genf haben einen Weg gefunden, den ungeliebten und unerwünschten Ballast aus den Kollisionen des ATLAS-Experiments zu nutzen: Sie verwandeln ihn in einen neuen Datensatz, der das Potenzial hat, Präzisionstests für das Standardmodell der Teilchenphysik und Untersuchungen für potenzielle zukünftige Collider-Kollisionen zu ermöglichen. Eine Studie, die gerade veröffentlicht wurde zeigt, dass es möglich ist, die Auflösung der Jet-Energie aus diesen zusätzlichen Daten zu bestimmen.

Ein weit verbreiteter Irrglaube über die Forschung am Large Hadron Collider LHC, dem Flaggschiff des CERN, ist, dass die Wissenschaftler:innen ihre Arbeit getan haben, sobald sie etwas Interessantes in den Proton-Proton-Kollisionen gefunden haben. Eine weiteres Missverständnis ist, dass eine Proton-Proton-Kollision tatsächlich das ist, was der Name sagt: eine Kollision eines einzelnen Protons mit einem anderen einzelnen Proton. In Wirklichkeit ist das Bild komplizierter. Protonen stossen zwar mit anderen Protonen zusammen, sind aber immer nur eines von vielen Protonen in einem Bündel. Eines von 1x1011, um genau zu sein. Das bedeutet also, dass nie nur eins auf ein anderes trifft, sondern Dutzende Male eins auf eins, wenn Protonenpakete zusammenstossen. Von diesen bis zu 30 Millionen Ereignissen pro Sekunde schafft es nur eine Auswahl, am Ereignis-Wächter des ATLAS-Experiments, dem sogenannten Triggersystem, vorbeizukommen, das sie (und alle gleichzeitig stattfindenden Kollisionen, der sogenannte Pile-up) für eine spätere Analyse speichert. Die Pakete enthalten so viele Protonen, um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass etwas Interessantes passiert, denn - und damit sind wir wieder beim Irrglauben Nummer 1 - je mehr Daten man hat, desto mehr weiss man über die Prozesse, die während der Kollisionen stattfinden.
Steven Schramm, Forscher an der Universität Genf, hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu untersuchen, was alle anderen als lästig empfinden: den Pile-up, Kollisionen, die gleichzeitig mit der als vom Tríggersystem als interessant eingestuften Kollision stattgefunden hat. In einer auf arXiv veröffentlichten Publikation haben er und sein Team ihre Forschungen der letzten drei Jahre zusammengefasst; diese Forschungen bildeten die Grundlage für Schramms ERC-Stipendium und seine Professur an der Universität Genf. Aus den Daten des LHC-Laufs 2, also aus den Jahren 2015 bis 2018, entfernten sie die eine Kollision, die die Aufzeichnung ausgelöst hat, und nutzten den Rest als ihren umfangreichen triggerunabhängigen Datensatz, der ihrer Meinung nach eine Fundgrube für alle Arten von Analysen sein könnte.
"Auf einen Schlag haben wir plötzlich fünfzigmal mehr Daten als zuvor, die wir nutzen können, um verschiedene Arten von Wechselwirkungen zu untersuchen", sagt Schramm. So gibt es zum Beispiel Prozesse bei Kollisionen, die der Trigger nicht effizient erfassen kann, die aber dennoch ihren Weg in den Pile-Up finden. Oder es gibt Prozesse, die so häufig vorkommen, dass ein Trigger auf sie (und damit die Aufzeichnung der gesamten Daten von jedem Mal, wenn die Teilchenbündel einander begegnen und dabei dieser Prozess auftritt, einschliesslich seines Pile-ups) zu unkontrollierbar grossen Datenmengen führen würde. Die Pile-up-Kollisionen sind bereits vorhanden, ohne zusätzliche Kosten oder Anforderungen an das Triggersystem, die Datenauslese oder die Speicherung.
Das Team hat gezeigt, dass es die Jet-Energie-[KM1] Auflösung aus dem Pile-up extrahieren kann, die eine Referenz für die Fähigkeit eines Detektors ist, den Energieunterschied zwischen zwei Jets zu bestimmen. Ein Jet ist ein Teilchenschauer im Detektor, bei dem alle Teilchen mehr oder minder gebündelt in die gleiche Richtung fliegen. Durch den Vergleich mit einem speziellen, vom Trigger unbeeinflussten Datensatz, der von ATLAS aufgezeichnet wurde, gelang es ihnen tatsächlich, die statistische Unsicherheit für den Transversalimpuls des Jets unter 65 GeV zu verringern. Transversal heisst, senkrecht zur Strahlrichtung
Schramm ist erleichtert, dass er nach anfänglichen Zweifeln in der Fachwelt an der Durchführbarkeit die vollständige ATLAS- Begutachtung bestanden hat: "Es ist ein wunderbares Gefühl, der Welt endlich zu zeigen, dass es funktioniert!" Das Ergebnis der Jet-Energie-Auflösung ist erst der Anfang. "Im Moment befinden wir uns in der Phase der Technologiedemonstration, d.h. wir zeigen, dass es funktioniert", sagt Schramm. Der nächste Schritt wäre der Einsatz für Physik-Analysen. "Wir denken, dass unser Ansatz für viele Analysen der Hadronenphysik mit niedriger Energie oder für solche mit einem sehr ineffizienten Trigger interessant sein wird", sagt er. Es öffnet auch die Tür zu noch präziseren Messungen bekannter Parameter des Standardmodells der Teilchenphysik.
Die Nutzung dieses Konzepts wird wahrscheinlich mit den Datensätzen für Lauf 3 zunehmen, der einen grösseren Datensatz mit höheren Pile-up-Bedingungen umfassen wird - bis zu 200 Kollisionen gleichzeitig. Ausserdem wird das ATLAS-Trigger-System einen grösseren Teil der gelieferten Daten aufzeichnen, so dass mehr Pile-up-Kollisionen zur Untersuchung zur Verfügung stehen werden. Pile-up wird mit jeder Verbesserung des Detektors und jedem zukünftigen Beschleunigerprojekt weiter zunehmen", prognostiziert Schramm. "Wir hoffen, dass wir langfristig einen nützlichen Beitrag leisten können."
Barbara Warmbein
ATLAS briefing on the topic: https://atlas.cern/Updates/Briefing/Jet-Barriers

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