Mitglied der SCNAT

Die Dachorganisation der Schweizer Forschenden auf dem Gebiet der Teilchen-, Astroteilchen- und Kernphysik unterstützt Schweizer Beteiligungen an internationalen Projekten und in internationalen Gremien. Sie koordiniert die Forschungs- und Ausbildungsbestrebungen sowie die Öffentlichkeitsarbeit.mehr

Bild: ESOmehr

60 Jahre CERN

„Das CERN vermittelt der Schweiz ein positives Image der Weltoffenheit“

Olivier Schneider, Professor für Teilchenphysik an der ETH Lausanne (EPFL), ist Präsident des 'Swiss Institute of Particle Physics' (CHIPP), einer Organisation, welche alle in der Schweiz tätigen Teilchenphysiker umfasst. Anlässlich des 60 Jahr-Jubiläums, das das CERN in diesem Jahr feiert, erläutert Olivier Schneider im Interview die Bedeutung des CERN für die Schweiz.

Olivier Schneider, Professor für Teilchenphysik an der ETH Lausanne

Olivier Schneider, welches war für Sie der beeindruckendste Moment, den Sie als Forscher am CERN erlebt haben?

Prof. Olivier Schneider: Das war der Augenblick, als ich vollständig realisiert habe, dass das LHCb-Experiment, an dessen Vorbereitung ich seit 1997 mitgewirkt habe, im Umfang unserer Vorhersagen und Erwartungen funktioniert. Diese Einsicht ist zwischen 2011 und 2012 nach und nach gereift, als die LHCb-Kollaboration ihre ersten Resultate ankündigte, die auf den ersten Messdaten am LHC beruhten. Dieses Gefühl, getragen von Stolz und Erleichterung, wurde noch verstärkt durch die Anerkennung, welche uns durch den Rest der Science Community zuteil wurde. Das scheint mir vergleichbar mit einer neuen Rakete, die man über Jahre hinweg konstruiert hat und deren erfolgreiches Abheben einen dann in einen Glückszustand versetzt. Unsere Mission ist noch nicht beendet, aber sie ist bereits jetzt ein Erfolg.

Das CERN feiert 2014 unter dem Titel '60 Years of Science for Peace'. Ist dieser Titel für Sie heute noch aktuell?

Absolut. Dieser Slogan – es ist tatsächlich ein Slogan, da bin ich überzeugt – offenbart eine der interessantesten Besonderheiten des CERN für unsere Gesellschaft: Forscher unterschiedlicher Nationalitäten und Kulturen arbeiten gemeinsam und mit einem gemeinsamen, friedensstiftenden Ziel, indem sie Grundlagenforschung im Bereich der Elementarteilchenphysik betreiben. Diese Unternehmung hatte stets eine sehr grosse Bedeutung – im Moment der CERN-Gründung 1954, als Europa seine Rupturen aus dem Zweiten Weltkrieg kitten musste, dann während den Jahrzehnten des Kalten Krieges, die darauf folgten, und schliesslich auch in jüngster Zeit, als das CERN sich breiter öffnete für nichteuropäische Staaten. Israel wurde 2014 der 21. Mitgliedsstaat des CERN. Länder wie Russland, die Ukraine, Pakistan und weitere streben Assoziationen mit dem CERN an. Das CERN ist aufgerufen, zum Frieden beizutragen, und es macht dies eher durch Wissenschaft als durch Politik.

In Fribourg wird am kommenden 2. Juli an einer Podiumsdiskussion diskutiert, welche Bedeutung das CERN für die Schweiz und die Schweizer Gesellschaft hat. Welches ist Ihre Meinung?

Das CERN ist für die Schweiz aus verschiedenen Gründen wichtig. Zunächst handelt es sich um eine der internationalen Organisationen in Genf. Zusammen mit anderen vermittelt das CERN der Schweiz in der Welt ein positives Image der Weltoffenheit. Das CERN ist zu einem Modell internationaler wissenschaftlicher Zusammenarbeit geworden. Man spricht über seine Erfolge – und damit auch über das CERN-Gastland Schweiz. Zudem, denke ich, vermittelt das CERN in der Schweiz ein positives Bild von Grundlagenforschung. Selbst wenn die Schweizer Bevölkerung nicht in jedem Detail versteht, was am CERN geforscht wird, teilt sie meines Erachtens das Gefühl, Teil eines wichtigen Abenteuers zu sein. Vielleicht ist man da und dort sogar stolz, dass das Higgs-Boson in unserem Land entdeckt wurde. Dieses Gefühl wird durch die Schweizer Medien aufgegriffen, die dem CERN im allgemeinen wohlgesonnen sind. Das CERN ist auch eine wichtige Einnahmequelle für Industrie und Schweizer Unternehmen, die das CERN mit Gütern und Dienstleistungen versorgen. Das CERN gibt in der Schweiz deutlich mehr aus, als die Schweiz an das CERN bezahlt. Zahlreiche lokale Unternehmen und Schweizer Hochschulen haben Kooperationen und Projekte mit dem CERN. Schliesslich zieht das CERN zahlreiche Wissenschaftler an, auch aus den USA und aus Asien, zudem eine beträchtliche Zahl von Besuchern aus ganze Europa (insbesondere Schüler und Lehrkräfte). Sie entdecken anlässlich ihres Besuchs dann auch die Schweiz.

Welche Bedeutung hat das CERN für die Schweizer Physiker?

Das CERN bietet eine umfassende Infrastruktur für die Hochenergiephysik. Dank der Beschleuniger, dem technischen Knowhow seiner Mitarbeiter und der stabilen Unterstützung seiner Mitgliedsstaaten ist das CERN heute das weltweit wichtigste Labor in diesem Bereich. Das schafft für die Schweizer Teilchenphysiker eine exzellente Gelegenheit, das CERN für ihre Recherchen zu nutzen, die sie sich nicht entgehen lassen. Mehr als zwei Drittel der Experimentalphysiker von CHIPP arbeiten an Experimenten des CERN.

Es gibt Beobachter, die behaupten, die Physik sei heute nicht mehr die Leitwissenschaft wie noch vor 100 Jahren, sondern die Biologie.

Die Elementarteilchenphysik (oder Hochenergiephysik) und die Kosmologie sind Disziplinen, die das Ziel haben, den 'Stoff' der Materie und damit aller Naturwissenschaften zu verstehen: den Raum, die Zeit, die elementaren Teilchen und ihre Interaktionen. Wir wollen die Natur dessen, was existiert, verstehen. Ich würde den Begriff 'Leitwissenschaft' gern in diesem Sinn interpretieren. Es trifft zu, dass diese Leitwissenschaft ihrem Wesen nach den Massstab auf Dimensionen, Zeiträume und Energien ausdehnen muss, die dem menschlichen Wesen völlig fremd sind. Ganz anders als die Biologie, auf die Sie in Ihrer Frage hinweisen. Sie bleibt per definitionem auf das Leben fokussiert, das heisst auf Prozesse, die einen direkten Einfluss auf den Menschen (als Organismus) haben. Deshalb ist die Biologie besser in der Lage, Krankheiten zu verstehen als die Teilchenphysik. Während der letzten 100 Jahre haben technologische Entwicklungen der Biologie erlaubt, den Status einer rein deskriptiven Wissenschaft zu überwinden. Die Mehrzahl dieser Entwicklungen sind Früchte der Leitwissenschaft oder wurden durch deren Bedürfnisse hervorgerufen. Dank der Leitwissenschaft sind die Perspektiven der Biologie enorm: Sie stammelt erst und hat eine brillante Zukunft vor sich.

Sie sind der aktuelle Präsident von CHIPP: Welches Ziel steht Ihnen für die Schweizer Teilchenphysik in den nächsten Jahren vor Augen?

Meine Mission ist definiert durch die generellen Zielsetzungen von CHIPP: Die Teilchenphysik und verwandte Gebiete sollen in der Schweiz gestärkt werden. Diese Stärkung, im Aufbau seit einigen Jahren, geschieht in erster Linie durch die freiwillige Abstimmung unter den Schweizer Forschern. Ich will diese Koordination begünstigen, damit wir unter Berücksichtigung des internationalen Kontexts noch besser die Kraftlinien unserer Forschung in den drei Pfeilern unserer Strategie festlegen: in der Teilchenphysik auf Hochenergiebeschleunigern, in der Neutrinophysik und in der Astroteilchenphysik, dem Grenzgebiet zwischen Teilchenphysik und Astrophysik. Diese Koordination ist unerlässlich, damit wir unsere Projekte gegenüber unseren institutionellen Partnern, von denen unsere Finanzierung abhängt, glaubwürdig vorbringen können. Parallel dazu müssen wir die externe Kommunikation weiter verbessern – gegenüber der breiten Öffentlichkeit, aber auch gegenüber ausgewählten Zielgruppen, zum Beispiel der Science Community. Ein Beispiel dafür ist die erste gemeinsame Jahrestagung vom CHIPP mit der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft, die wir nächste Woche anlässlich des 60 Jahr-Jubiläums des CERN in Fribourg organisieren.

Interview: Benedikt Vogel (veröffentlicht 25. Juni 2014)

Kategorien

  • Elementarteilchen
  • Elementarteilchenphysik