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Lesya Shchutska will die Existenz schwerer Neutrinos nachweisen

Suche nach einer verborgenen Welt

Lesya Shchutska (sprich: Schutska) ist mit 33 Jahren bereits Professorin für Elementarteilchenphysik an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL). “Ich kann mir im Moment nicht vorstellen, irgend etwas anderes zu tun als Physik”, sagt die Forscherin, die sich mit Teilchen befasst, die bisher nur in Gedankengebäuden theoretischer Physiker existieren.

Neben Lehre und Forschung versteht es die 33jährige Wissenschaftlerin, komplexe Sachverhalte in einer einfachen Sprache einem breiten Publikum verständlich zu machen – zum Beispiel bei Weiterbildungsveranstaltungen für Lehrer oder am Tag der offenen Tür der EPFL. Foto: B. Vogel
Bild: CHIPP, Switzerland

Es war im Februar 2018, als Lesya Shchutska von der EPFL zum Bewerbungsgespräch für eine freie Professur eingeladen wurde. Die Wissenschaftlerin war schwanger, und der Gesprächstermin, den die Hochschule vorschlug, fiel ziemlich genau auf den Tag der geplanten Entbindung. “Das ging natürlich nicht”, erzählt die 33jährige Forscherin, “aber die Leute von der Hochschule sind mir entgegengekommen und haben den Termin vorverlegt; dafür bin ich ihnen sehr dankbar.” Jetzt sitzt Professorin Shchutska in einem nüchtern eingerichteten Büro an der EPFL. Es ist ein Provisorium, bis sie im nächsten Jahr ihr eigenes Büro beziehen kann. Ihre Tochter ist inzwischen anderthalb Jahre alt. Die Wissenschaftlerin bringt beides unter einen Hut, Kind und Karriere – dank der Kinderkrippe, die die EPFL ihren Mitarbeiterinnen anbeitet, und dank der Unterstützung ihres Mannes, selber ein Physiker.

Lesya – wir reden Englisch, also nennen wir uns beim Vornamen – ist ein Energiebündel. Ihr kommen die Sätze so schnell über die Lippen, dass der Zuhörer seine ganze Konzentration zusammennehmen muss, um ihren Gedanken zu folgen. Die amerikanische Färbung ihn ihrem Englisch verrät etwas von ihrer Zeit als Postdoc: Von 2012 bis 2017 arbeitete sie am CERN in Genf in der Forschergruppe der University of Florida. “Die Amerikaner sind ‘taff’ und ‘ergebnisorientiert”, sagt Lesya. Es besteht kein Zweifel, dass dies Eigenschaften sind, die sie selber schätzt und die auch ganz ihrem persönlichen Arbeitsstil entsprechen.

Nachweis von schweren Neutrinos

Lesya ist ein wissenschaftliches Talent – das belegt ihre schnelle Karriere. Wenn sie über ihre aktuelle Forschung spricht, ahnt man etwas von der Originalität ihres Denkens, selbst wenn es schwierige Themen sind, die ein Nicht-Physiker nur schwer begreift. Anknüpfungspunkt ihrer Arbeit ist die Theorie von der Existenz schwerer Neutrinos. Michail Schaposchnikow – ein theoretischer Physiker russischer Herkunft und bekannnter EPFL-Professor – hat die Existenz schwerer Neutrinos mit einer speziellen Massekonfiguration vor rund 15 Jahren postuliert (das leichteste im keV-Bereich, zwei schwerere im GeV-Bereich). Die Elementarteilchen sind bis heute – anders als die ‘normalen’ drei Neutrinos – nicht experimentell nachgewiesen. Genau dieser Nachweis ist die Aufgabe, an der Lesya in den letzten Jahren gearbeitet hat und an der sie weiter arbeitet.

Wenn Lesya über ihre Forschung reden will, schiesst sie aus dem Bürostuhl hoch, stellt sich an das Whiteboard und hält eine kleine, gut nachvollziehbare Vorlesung: Sie beginnt bei den drei bekannten Neutrinos, dem Elektron-, dem Myon- und dem Tauneutrino. Neutrinos galten lange Zeit als masselos. Seit einigen Jahren weiss man, dass sie eine Masse haben, die allerdings um zehn Grössenordnungen kleiner ist als die Masse ihrer Partnerteilchen Elektron, Myon und Tau. “Nach der Theorie von Michail Schaposchnikow hat jedes der bekannten, leichten Neutrinos einen schweren Partner. Wir bezeichnen diese Partner als N1, N2 und N3. Existieren diese Teilchen, wären sie der Schlüssel zur Lösung verschiedener, heute noch ungeklärter Fragen: Woraus besteht Dunkle Materie? Warum gibt es im Universum Materie, aber praktisch keine Antimaterie? Warum haben die bisher bekannten Neutrinos eine so unvorstellbar geringe Masse?” Alle diese Fragen, sagt Lesya, bekämen mit der Bestätigung von Schaposchnikows Theorie möglicherweise eine Antwort.

Alternative zum SHiP-Experiment

Es ist ein fantastischer Ausblick, den Lesya mit wenigen Strichen auf ihrem Whiteboard skizziert. Liessen sich die drei schweren Brüder – N1, N2 und N3 – experimentell nachweisen, müssten die Bücher der modernen Teilchenphysik neu geschrieben werden. Für ihre Suche wurde Lesya in den letzten Jahren vom Europäischen Forschungsrat (ERC) mit einem ERC-Grant unterstützt. Der Nachweis ist bisher zwar nicht gelungen, aber bemerkenswert ist schon die Tatsache, dass überhaupt schon Forschungsergebnisse zu dem Thema vorliegen. Für den Nachweis der drei schweren Neutrinos sollte nämlich im Jahr 2013 am CERN das sogenannte SHiP-Experiment aufgebaut werden. Dieses stiess auf ein breites Interesse in der weltweiten Teilchenphysik-Community – darunter bei EPFL und den Universitäten Genf und Zürich –, ist aus finanziellen Gründen bisher aber nicht aufgebaut worden.

Lesya liess sich durch diesen Rückschlag nicht entmutigen. Sie fand einen anderen Weg, um nach den schweren Neutrinos zu suchen, nämlich mithilfe des CMS-Experiments, das seit über zehn Jahren am CERN läuft und dessen Detektor möglicherweise auch Spuren von schweren Neutrinos nachweisen kann. Dies könnte in dem Moment gelingen, wenn sich schwere Neutrinos in ihre leichten Brüder verwandeln. Physiker bezeichnen diesen sehr seltenen Prozess als “Mixing” (nicht zu verwechseln mit den Oszillationen, also der Verwandlung, die leichte Neutrinos durchmachen und die experimentell seit Jahren nachgewiesen ist). “Bisher haben wir das Mixing nicht nachgewiesen, aber wir haben noch nicht alle CMS-Daten ausgewertet”, sagt Lesya. “Künftig wollen wir zudem auch mit dem LHCb-Experiment, einem weiteren CERN-Experiment, nach den Teilchen suchen.” Die Sensation könnte also noch stattfinden.

Studium an der Kaderschmiede MIPT

Die Berufung an die EPFL im April dieses Jahres ist für Lesya die bisherige Krönung in ihrer wissenschaftlichen Karreiere. Die Tochter eines ukrainischen Ingenieurs und einer russischen Computerwissenschaftlerin wuchs in einem Dorf in der Zentralukraine auf. Neunjährig las sie ein Physikbuch. Seither lassen sie Naturwissenschaften nicht her los. Mit 16 fuhr die Gymnasiastin mit dem ukrainischen Nationalteam zur Physik-Olympiade nach Indonesien und holt die Bronze-Medaille. Mutter hätte ihrer Tochter lieber eine Ärztin gemacht, der Vater aber stand hinter ihrem Berufswunsch Physikerin – er hatte sogar seine Arbeitsstelle gewechselt, um Lesya den Wechsel an ein gutes Gymnasium zu ermöglichen. Schliesslich wechselte die junge Frau für ihr Studium nach Moskau. Denn ihr Physikstudium wollte sie unbedingt an die russischen Kaderschmiede MIPT (Moscow Institute of Physics and Technology) machen.

2008 erwarb Lesya nach sechs Jahren den Master in Physik (mit Spezialisierung in Teilchenphysik). Dann wechselte sie nach Lausanne an die EPFL und promovierte bei Prof. Tatsuya Nakada, indem sie ein Ballonexperiment zur Erkundung der kosmischen Strahlung konzipierte. Nach der Promotion packte sie beherzt jede Chance, die sich ihr nun bot: Zuerst arbeitete sie fünf Jahre als Postdoc der University of Florida am CMS-Experiment, ab 2017 dann als Oberassistentin in der Forschergruppe von Prof. Günther Dissertori (ETH Zürich), bis sie 2019 als Professorin an die EPFL berufen wurde.

Eine der 100 einflussreichsten Frauen

Im Mai 2019 durfte Lesya den ‹Young Experimental Physicist Prize› der ‹European Physical Society› entgegennehmen. Die Auszeichnung hat nicht nur in Lausanne zu freundlichen Reaktionen geführt, sie schlug auch in den ukrainischen Medien hohe Wellen, wie Lesya berichtet. Ein Magazin führte Lesya Shchutska prompt unter den 100 einflussreichsten Frauen der Ukraine auf. Das war sicher nicht falsch: Als Teilchenphysik-Professorin an der EPFL ist mit der Wissenschaftlerin zu rechnen.

Autor: Benedikt Vogel

Lesya Shchutska unterrichtet Studentinnen und Studenten an der ETH Lausanne in Elementarteilchenphysik. Foto: B. Vogel
Lesya Shchutska unterrichtet Studentinnen und Studenten an der ETH Lausanne in Elementarteilchenphysik. Foto: B. VogelBild: CHIPP, Switzerland

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