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Aufregende Neuigkeiten von CERN-Experiment mit Schweizer Beteiligung

Wenn die Münze häufiger ‚Kopf‘ zeigt als ‚Zahl‘

Vor bald zehn Jahren schrieb das Europäische Labor für Teilchenphysik (CERN) mit der Entdeckung des Higgs-Teilchens Schlagzeilen. Dieser Tage hat das LHCb-Experiment am CERN Resultate veröffentlicht, die ebenfalls das Zeug haben zu einer echten wissenschaftlichen Sensation: Untersuchungen des sogenannten beauty-Quarks lassen vermuten, dass es neben den vier bekannten Naturkräften (Elektromagnetismus, Gravitation, starke und schwache Wechselwirkung) eine fünfte, superschwache Kraft geben könnte. Um diese spektakuläre Hypothese zu bestätigen, haben die CERN-Forschenden allerdings noch ein Stück Arbeit vor sich. An vorderster Front mit dabei: Teilchenphysikerinnen und -physiker der Universität Zürich und ETH Lausanne.

Comparison between RK measurements. The measurements by the BaBar and Belle collaborations combine B+→K+ℓ+ℓ− and B0→KS0ℓ+ℓ− decays, where ℓ is a lepton. The previous LHCb measurements and the new result [4], which supersedes them, are also shown.
Bild: LHCb, CERN

Am Large Hadron Collider (LHC), dem CERN-Teilchenbeschleuniger, arbeiten Forschende an vier grossen Experimenten. Bei der Entdeckung des Higgs-Teilchens im Jahr 2012 standen das ATLAS- und das CMS-Experiment in der ersten Reihe. In diesen Tagen macht nun das LHCb-Experiment mit bemerkenswerten Resultaten von sich reden. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dieses Experiments untersuchen die Eigenschaften von beauty-Quarks, kurz b-Quarks. b-Quarks sind elementare Bausteine der Materie und haben eine Masse, die ungefähr 1000 mal grösser ist als jene der up- und down-Quarks, der Bausteine von Protonen und Neutronen. b-Quarks entstehen bei Proton-Proton-Kollisionen im LHC und zerfallen sofort wieder in leichtere Teilchen.

Nach den bekannten Gesetzen der Teilchenphysik, dem sogenannten ‹Standardmodell›, sollten b-Quark-Zerfälle mit Beteiligung von Elektronen gleich häufig vorkommen wie solche mit Myonen. Genau das scheint aber nicht der Fall zu sein, wie die neusten Ergebnisse des LHCb-Experiments nahelegen. Die Analyse der seit 2011 gesammelten Daten zeigt, dass Zerfälle mit Elektronen etwas häufiger sind als jene mit Myonen. Prof. Nicola Serra, Teilchenphysiker der Universität Zürich, der seit Jahren am LHCb-Experiment mitarbeitet, sieht darin eine fantastische Neuigkeit: «Als vor knapp zehn Jahren das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, war das letztlich die Bestätigung eines Teilchens, dessen Existenz lange zuvor vorausgesagt worden war und mit dem das Standardmodell einmal mehr bestätigt wurde. Unsere Messungen am LHCb-Experiment deuten hingegen auf etwas komplett Neues, das über das Standardmodell hinausweist.»

Anomalie beim Zerfall von b-Quarks

Nach heutigem Wissen existieren drei Familien (auch: «Generationen» oder engl. «flavours») von Elementarteilchen. Die erste Familie stellt die bekannte Materie dar: Zu ihr gehören die up- und die down-Quarks, die den Kern aller Atome bilden und zusammen mit den Elektronen den Grossteil der uns bekannten physikalischen Welt ausmachen. Darüber hinaus gibt es eine zweite Familie aus Teilchen, bestehend aus dem strange-Quark, dem charm-Quark und dem Myon. Diese Teilchen sind schwerer als die Mitglieder der ersten Familie. Noch schwerer sind die Teilchen der dritten Familie, bestehend aus dem top-Quark, dem beauty-Quark und dem Tau-Lepton. Jede der drei Familien enthält zusätzlich ein entsprechendes Neutrino.

Das LHCb-Experiment am CERN kann den Zerfall von beauty-Quarks in die leichteren strange-Quarks und zwei gegensätzlich geladene Leptonen nachweisen – entweder ein Elektron-Antielektron-Paar oder ein Myon-Antimyon-Paar. Diese Zerfälle sind allerdings extrem selten. Das LHCb-Experiment hat in den letzten sieben Jahren rund eine Billion Ereignisse analysiert; nur bei einigen Tausend handelte es sich um einen dieser Zerfälle. Deren Analyse zeigt nun: Der Zerfall mit einem Myon-Antimyon-Paar ist gemäss den bisherigen Messungen etwa 15% seltener ist jener mit einem Elektron-Antielektron-Paar. Dieses Ergebnis rührt an den Grundfesten der Teilchenphysik. Das Standardmodell geht bisher nämlich davon aus, dass Elektronen und Myonen sich zwar in ihrer Masse unterscheiden (das Myon ist etwa 200 mal schwerer), sich ansonsten aber gleich verhalten. Diese Gesetzmässigkeit – Physiker sprechen von ‹Leptonen-Universalität› – scheint mit den neuen Messresultaten verletzt zu sein. Eine zentrale Annahme der heutigen Physik stünde zur Disposition.

Hinweis auf eine bisher unbekannte Kraft

Vom Schulunterricht zur Wahrscheinlichkeitsrechnung wissen wir: Eine Münze fällt gleich oft auf ‹Kopf› und auf ‹Zahl›. Doch was, wenn eine solche Selbstverständlichkeit mit einmal in Frage steht? Genau vor diesem Problem standen Physikerinnen und Physiker im Jahr 2015, als erste Messungen des LHCb-Experiments Hinweise auf ungleiche Zerfallsraten der b-Quarks gaben. Wie könnte diese Ungleichheit erklärt werden? Wie würde sie unser Verständnis der Materie verändern? Experimentalphysiker hatten Fragen aufgeworfen, die theoretische Physiker nun zu beantworten suchten. Einer, der sich dieser Aufgabe sehr früh stellte, war Prof. Gino Isidori, wie Nicola Serra Teilchenphysiker an der Universität Zürich. Isidori hatte bald eine Idee, was die unterschiedliche Rate der beiden Zerfälle erklären könnte: «Die experimentellen Daten legten nahe, dass auf Myonen und Elektronen unterschiedlich grosse Kräfte wirken. Offenbar ist hier eine neuartige Kraft im Spiel, die wir als superschwache Kraft bezeichnen», skizziert Isidori seine Überlegungen.

Die Aussage des Zürcher Teilchenphysiker birgt Sprengkraft, denn bisher kennt die Physik genau vier fundamentale Kräfte, nämlich Elektromagnetismus, Gravitation, starke und schwache Wechselwirkung. Sollte in der Natur tatsächlich eine fünfte Kraft existieren, bräuchte diese ein Austauschteilchen, das die Kraft vermittelt, so wie das bei den vier bekannten Kräften der Fall ist. Gino Isidori: «Wir bezeichnen dieses bisher noch hypothetische Teilchen, das die superschwache Kraft vermittelt, als Leptoquark. Dieses neue Teilchen sollte schwerer sein als alle bisher bekannten Teilchen, aber wir müssten es experimentell nachweisen können. Das eröffnet eine faszinierende Perspektive: Unsere Berechnungen deuten nämlich darauf hin, dass gute Chancen bestehen, das Leptoquark, wenn es denn existiert, am LHC durch das CMS- und das ATLAS-Experiment entdecken zu können.»

Gewissheit in drei bis fünf Jahren

Der theoretische Erklärungsansatz einer fünften Kraft hat das Potenzial, das Verständnis der materiellen Welt zu revolutionieren. Allerdings steht er bislang noch auf einem ziemlich schwachen Fundament. Noch immer besteht nämlich die Möglichkeit, dass die beobachteten Unterschiede bei der Häufigkeit der b-Quark-Zerfälle lediglich eine Laune der Statistik sind. Die Wahrscheinlichkeit für eine statistische Fluktuation beträgt nach den jüngsten Messungen des LHCb-Experiments zwar nur 0,1 %. Aber in der Teilchenphysik liegt der Gold-Standard für eine Beobachtung, bei Berücksichtigung aller bekannten Unsicherheiten, bei einer Wahrscheinlichkeit von weniger als 0,00003 % (Signifikanz von 5 Sigma). «Um diese Sicherheit zu erreichen, brauchen wir voraussichtlich weitere drei bis fünf Jahre», sagt Nicola Serra. «Dabei werden wir nicht nur weitere Daten für die oben beschriebene Messung sammeln, sondern wir werden am LHCb-Experiment und an anderen Experimenten auch Messungen mit unterschiedlichen Zerfallskanälen durchführen, die uns die letzte Gewissheit verschaffen sollen.»

Für Teilchenphysikerinnen und -physiker bleibt also noch einiges zu tun. Gut möglich aber, dass in einigen Jahren dann die wissenschaftlich Sensation gelingt. Es gibt Licht am Horizont, dass – wie von der Fachwelt seit langem erhofft – die Beschränkungen des Standardmodells der Teilchenphysik überwunden und grundlegend neue Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Die Hoffnung auf diesen Schritt nährt sich nicht nur aus den jüngsten Nachrichten vom CERN. Mehrere andere Ergebnisse von LHCb und weiteren Experimenten weisen darauf hin, dass Messungen mit einem ähnlichen Muster von den Vorhersagen abweichen. Sie alle deuten darauf hin, dass die Teilchenphysik in den nächsten Jahren ein neues Kapitel aufschlagen könnte.

Autor: Benedikt Vogel

(hinweis) Weitere Informationen zum LHCb-Experiment: https://lhcb-public.web.cern.ch

  • Die Grafik veranschaulicht in der untersten Zeile das aktuelle Hauptergebnis des LHCb-Experiments: Der b-Quark-Zerfälle unter Beteiligung von Myonen kommen nur rund 0.85 mal so häufig vor wie b-Quark-Zerfälle mit Elektronen. Die zweit- und drittunterste Zeile zeigen frühere Messungen vom LHCb-Experiment mit weniger Statistik. Die obersten Zeilen zeigen die Ergebnisse des BaBar-Experiments (USA) und des Belle-Experiments (Japan).
  • Prof. Nicola Serra spielt seit 2009 mit seiner Forschergruppe der Universität Zürich eine führende Rolle bei der Auswertung der Daten des LHCb Experimentes. Gruppen der Universität Zürich und der ETH Lausanne haben wichtige Beiträge zum Design und zur Konstruktion des LHCb-Detektors geleistet und arbeiten auch an den Erweiterungen des Detektors. Diese werden der Schlüssel sein, um genug Daten sammeln zu können, um herauszufinden, ob die beobachteten Anomalien tatsächlich auf neue Physik zurückzuführen sind.
  • UZH-Prof. Gino Isidori und seine Gruppe aus theoretischen Physikerinnen und Physikern haben früh begonnen, für die am LHCb-Experiment beobachteten Anomalien beim Zerfall von b-Quarks neue Erklärungsmodelle zu suchen.
  • Die Grafik veranschaulicht in der untersten Zeile das aktuelle Hauptergebnis des LHCb-Experiments: Der b-Quark-Zerfälle unter Beteiligung von Myonen kommen nur rund 0.85 mal so häufig vor wie b-Quark-Zerfälle mit Elektronen. Die zweit- und drittunterste Zeile zeigen frühere Messungen vom LHCb-Experiment mit weniger Statistik. Die obersten Zeilen zeigen die Ergebnisse des BaBar-Experiments (USA) und des Belle-Experiments (Japan).Bild: CERN1/3
  • Prof. Nicola Serra spielt seit 2009 mit seiner Forschergruppe der Universität Zürich eine führende Rolle bei der Auswertung der Daten des LHCb Experimentes. Gruppen der Universität Zürich und der ETH Lausanne haben wichtige Beiträge zum Design und zur Konstruktion des LHCb-Detektors geleistet und arbeiten auch an den Erweiterungen des Detektors. Diese werden der Schlüssel sein, um genug Daten sammeln zu können, um herauszufinden, ob die beobachteten Anomalien tatsächlich auf neue Physik zurückzuführen sind.Bild: University Zurich2/3
  • UZH-Prof. Gino Isidori und seine Gruppe aus theoretischen Physikerinnen und Physikern haben früh begonnen, für die am LHCb-Experiment beobachteten Anomalien beim Zerfall von b-Quarks neue Erklärungsmodelle zu suchen.Bild: University Zurich3/3
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  • Elementarteilchenphysik

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