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Forschungssoziologie

„Im CERN sind es Teams aus gleichgestellten Forschern, die Topwissen hervorbringen“

Die österreichische Psychologin Dr. Clara Kulich (32) arbeitet an der Universität Genf und hat zusammen mit einem Kollegen untersucht, wie Forscherinnen und Forscher im Forschungszentrum CERN zusammenarbeiten. Die Resultate haben sie in Genf vorgestellt.

Im Herz von CERN, der Protonenquelle. Am Modell erklärt Mick Storr, wie dem Wasserstoffgas hier die Protonen entzogen werden, die dann im Large Hadron Collider (LHC) miteinander kollidieren.
Image: Christine Plass

Frau Kulich, was bringt eine Psychologin dazu, sich ausgerechnet mit forschenden Physikern zu beschäftigen?

Clara Kulich: Viele Unternehmen der Privatwirtschaft produzieren heute nicht mehr Produkte, sondern Wissen. Uns interessiert, wie neues Wissen in den Unternehmen hergestellt und zwischen verschiedenen Abteilungen oder Personen weitergegeben wird. Um diese Vorgänge zu verstehen, ist das Forschungszentrum für Teilchenphysik in Genf sehr von Interesse, denn das CERN ist der Inbegriff einer 'Wissensfabrik'. Wir befragen also Physiker über die Situationen und Momente, in welchen sie gute Ideen haben, neue Zusammenhänge erkennen, oder neues lernen, um besser zu verstehen, wo, wann und wie neues Wissen entsteht. Ausserdem interessieren wir uns dafür, wer mit wem Wissen austauscht und welche Bedingungen die freie Zirkulation von Wissen zwischen den Forschenden begünstigen. Hier spielt natürlich die kulturelle, sprachliche, und geschlechtliche Vielfalt der Forschenden eine wichtige Rolle. Aus den Beobachtungen am CERN können wir wertvolle Erkenntnisse für Unternehmen gewinnen.

Zum Beispiel?

Es braucht keine steile Hierarchie mit Chefs und Untergebenen, um erstklassiges Wissen hervorzubringen. Im CERN sind es Teams aus gleichgestellten Forschern, die Topwissen hervorbringen. Das heisst, es ist nicht wichtig, ob jemand eine Frau, ein Muslim, Professor oder ein Doktorand ist, sondern es zählt, ob eine Person das Wissen hat, das gebraucht wird.

Das CERN wäre also ein Vorbild für Unternehmen?

Man kann die Situation am CERN nicht eins zu eins auf private Unternehmen übertragen. CERN-Forscher haben eine starke – wie wir sagen – intrinsische Motivation. Das heisst, der Antrieb für ihre Arbeit sind nicht Geld oder ein Bonus, sondern Neugierde und Freude an der Erkenntnis. Die Forscher sind dann auch bereit, vollen Einsatz zu zeigen und zum Beispiel unentgeltlich eine Menge Überstunden zu leisten, wie unsere Untersuchung zeigt. Der Fakt, dieser erstklassigen Forschungsinstitution anzugehören, ist in sich selbst schon eine Motivation, da man dadurch direkt an der Front der Wissensproduktion dabei ist. In Unternehmen sieht das anders aus. Oft gibt es ein vergleichbares Unternehmen, zu dem Mitarbeiter wechseln können, wenn sie nicht zufrieden sind. Das CERN ist einmalig, da kann man nicht einfach wechseln.

Ausserdem sind die am CERN durchgeführten Experimente heute so komplex, dass es viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichem Wissen braucht, um neue Erkenntnisse zu erzielen. Eine Person allein kann nicht alles verstehen und wissen. Daher ist es praktisch unmöglich, mit dem Experiment und der eigenen Karriere voranzukommen, wenn man sein Wissen für sich alleine behält. Das heisst, der Austausch von Wissen liegt in der Natur des Experiments. So ist jeder quasi 'gezwungen', mit jedem zu kommunizieren und seine Ideen mitzuteilen.

Das klingt ja beinahe so, als würden sich am CERN alle Forscherinnen und Forscher auf gleicher Augenhöhe begegnen, also wäre das CERN die Insel der Glückseligen.

Das ist nur bedingt so. Man muss da auch genauer hinsehen! In meiner persönlichen Forschungsarbeit widme ich mich insbesondere der Frage, wie verschiedene Forscher und vor allem Forscherinnen die Arbeit am CERN erleben. Das CERN hat ein hohes Ansehen. Wenn nun Menschen mit einem Minderheitenstatus zum CERN kommen, zum Beispiel Frauen oder Personen etwa aus wirtschaftlich benachteiligten Ländern wie Osteuropa oder Südafrika, dann bedeutet für sie die Arbeit am CERN einen immensen Prestigegewinn. Mit dem CERN können sie Nachteile, die aus ihren Minderheitenstatus erwachsen, kompensieren. Zum Beispiel gibt es Vorurteile, dass Frauen weniger geeignete Physiker oder Mathematiker sind. Wenn sie es jedoch hoch hinausschaffen, dann haben sie bewiesen, dass sie es doch können und werden sich nun mehr auf ihr Selbstbild als Physiker als jenes als Frau konzentrieren. Die Tätigkeit in dieser Forscher-Community ermöglicht ihnen also ein positives Selbstbild. Zum Beispiel meinte eine Frau, die ich am CERN interviewt habe, dass es ihr lieber ist, am Arbeitsplatz nicht daran zu denken, dass sie eine Frau ist. Auch erwähnten mehrere Frauen, dass sie das Gefühl haben, weil sie Frauen sind, nicht für 'voll' genommen zu werden. Sie hätten sich den nötigen Respekt erst verschaffen müssen. Zum Beispiel erzählte eine, dass ihre Aufdeckung von Fehlern oder Ideen erst dann breiter aufgegriffen würde, wenn ein männlicher Kollege sie artikuliert. Sobald sich diese Frauen allerdings bewiesen hatten, ginge es dann leichter und sie wurden auch angehört. Hingegen keiner der Männer hat erwähnt, dass seine Identität als Mann störend sein könnte. Die Umfrage mit einer aussagekräftigen Anzahl an Forschern hat auch gezeigt, dass Frauen eher angeben, geschlechterbezogene Diskriminierung zu erfahren als Männer.

Allerdings kann dieser Fokus hin zur Identität als Physiker oder Wissenschaftler und weg von der Identität als Frau auch Nachteile beinhalten. Erste Erkenntnisse zeigen, dass diese Frauen oft eine sehr kritische Einstellung anderen Frauen gegenüber haben. Warum ist noch nicht ganz geklärt. Dies kann sein, weil sie sich einfach weniger mit anderen Frauen identifizieren und mehr mit ihrer Berufsgruppe und nun die Frauen nach den gängigen Vorurteilen behandeln, also ihnen weniger Kompetenz zusprechen. Oder, es kann auch sein, dass die Frauen, die sich einen hohen Status erarbeitet haben, Angst haben, dass andere Frauen durch typisch weibliches Verhalten den Status der Erfolgreichen schädigen könnten. Man bleibt halt immer noch Frau, auch wenn man eine erfolgreiche Physikerin geworden ist. Und die Eigenschaften die wir mit Forschern und Frauen verbinden, sind oft widersprüchlich.

CERN-Physiker erzählen gern, unter Physikern spielten Geschlecht oder Nationalität keine Rolle, Physik sei universell und kenne keine Grenzen.

Das ist ein gern gepflegtes Selbstbild der CERN-Physiker. Richtig ist, dass Physik weder russisch oder amerikanisch, weder männlich oder weiblich ist. So haben ein paar Forscher erwähnt, dass es einfacher wäre, über Physik zu sprechen als über andere Bereiche ihres Lebens, da in der Physik jeder die gleiche Sprache spricht, unabhängig von der Muttersprache oder der Kultur, aus der die Person kommt. Trotz dieser verbindenden Kraft der Naturwissenschaft sind am CERN nicht alle Grenzen einfach aufgehoben. Eine junge Forscherin hat uns erzählt, Ihre Lösung eines bestimmten Problems habe nur dann Anerkennung gefunden, wenn sie es in der Art gemacht habe, wie es die Männer tun. Ihr blieb also nichts anderes übrig als sich zu verstellen. Auch die nationalen Grenzen lösen sich am CERN nicht einfach in Luft auf. Am CERN arbeiten Teilchenphysiker aus allen Kontinenten gemeinsam an einem Projekt bei ganz unterschiedlichen Gehältern, denn bezahlt werden sie ja von ihren jeweiligen Heiminstitutionen, was bedeutet, dass eine Person aus Russland oder Südafrika wesentlich weniger verdient als jemand aus der USA oder der Schweiz. Auch die Art, wie Forscher arbeiten, ist von der Herkunft geprägt. Junge japanische Forscher haben beispielsweise ein Problem, eine Frage an einen Professor zu stellen, denn in der japanischen Kultur ist es der hierarchisch höher gestellten oder älteren Person vorbehalten, Fragen zu stellen. Wenn dieser junge Japaner am CERN mit Forschern aus anderen Ländern in Kontakt kommt, kann das zu Missverständnissen oder gar Konflikten führen. Zum Beispiel hat mir ein Japaner erzählte, dass es ihn störe, dass Amerikaner oder Deutsche darauf Zeit verwenden, jeden kleinen Zwischenschritt aus ihrer Forschung zu berichten. Unabhängig davon erzählte mir ein Deutscher, dass es manchmal störe, dass man ewig nichts von den Japanern höre und dann stehen sie plötzlich mit dem Endergebnis da.

Und dann sind ja auch nicht alle Forscher gleich gut ausgestattet.

Richtig. Forscher von wirtschaftlich schwächeren Ländern stossen auch auf Barrieren. Sie haben oft weniger Anschluss an das CERN Netzwerk, da sie zu wenig Geld haben, um zum CERN zu reisen, ihre Infrastruktur (wie Internet) oft nicht so gut ausgebaut ist, und dann oft noch sprachliche Probleme dazukommen. Ein russischer Forscher hat uns berichtet, er fühle sich am CERN schlecht integriert, weil in Russland oft die Internetverbindung schlecht funktioniert und er daher manchmal die aktuellsten Informationen vom CERN nicht zur Verfügung hat. Forscher aus reicheren Ländern können regelmässig an den CERN nach Genf reisen, können dort Forscherkollegen treffen und mit ihnen diskutieren. Die Forschenden haben wiederholt erzählt, dass es häufig zufällige Begegnungen am Gang oder ein Plausch im Café sind, die zum Lösung eines Problems oder zur Geburt einer neuen Idee führen. Für Forscher aus wirtschaftlich benachteiligten Staaten dagegen ist dieser zwanglose, oft zufällige, persönliche Austausch oft nicht möglich.

Die Forschungsergebnisse von Clara Kulich und ihres Schweizer Kollegen Fabio Lorenzi-Cioldi beruhen auf der Befragung von CERN-Forschern. Rund 200 Wissenschaftler haben einen Fragebogen ausgefüllt, mit 20 Wissenschaftlern wurden vertiefende Interviews geführt.

Interview: Benedikt Vogel (veröffentlicht: 20. Dezember 2013)

  • Clara Kulich
  • Im Herz von CERN, der Protonenquelle. Am Modell erklärt Mick Storr, wie dem Wasserstoffgas hier die Protonen entzogen werden, die dann im Large Hadron Collider (LHC) miteinander kollidieren.
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  • Im Herz von CERN, der Protonenquelle. Am Modell erklärt Mick Storr, wie dem Wasserstoffgas hier die Protonen entzogen werden, die dann im Large Hadron Collider (LHC) miteinander kollidieren.Image: Christine Plass2/2

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