Fabrik für Isotope und Spielwiese für Experimente
Berner Zyklotron verbindet medizinische Anwendungen mit Grundlagenforschung
Für Krebspatienten zählt jeder Tag. Man stelle sich vor, man könnte einen Schritt in der Krebsdiagnose und -behandlung überspringen und beides gleichzeitig tun: nicht nur herausfinden, wo der Tumor sitzt, sondern ihn auch gleich behandeln. Ein Team der Universität Bern, die ein eigenes medizinisches Zyklotronlabor betreibt, hat sich genau diese Herausforderung vorgenommen. Ihr Zyklotron ist ein richtiges Arbeitstier für die Wissenschaft, denn in der Nacht produziert es medizinische Isotope für die Krebsdiagnostik und tagsüber dient es als Testanlage für die Teilchenphysik und viele andere multidisziplinäre wissenschaftliche Aktivitäten.
"Unser Zyklotron ist eine wirklich vielseitige Maschine", sagt Prof. Saverio Braccini, der Leiter des Projekts. "Wir können den Strahl für alles verwenden, was wir wollen." Der gelernte Teilchenphysiker ist es gewohnt, Konzepte zu entwerfen und Geräte an ihre Grenzen zu bringen. Als die Diskussionen um den Bau eines medizinischen Zyklotrons in Bern begannen, war es seine Idee, die Anlage für andere Forschungsbereiche zu öffnen. Das Zyklotron, eine Art Teilchenbeschleuniger, ist eines von drei, die in der Schweiz in Spitälern betrieben werden. Es befindet sich im Inselspital Bern und wird von der Spin-off-Firma SWAN Isotopen AG für die Produktion von Radiopharmazeutika und von der Universität Bern für Forschungszwecke betrieben.
Das primäre Ziel der Anlage – die Herstellung von Radioisotopen für die Krebsdiagnostik – hat natürlich immer Vorrang vor allem anderen. Wann immer es möglich ist, testen aber auch Teilchenphysiker:innen neuartige Detektoren, zum Beispiel für das ATLAS-Experiment am LHC am CERN. Auch Strahlenschutzexpert:innen untersuchen neue Geräte zur besseren Abschirmung von Strahlung. Sogar Weltraumforschende stellen ihre Geräte in den Strahl, um zu prüfen, ob sie den rauen Bedingungen im Weltraum standhalten, zum Beispiel die JUICE-Raumfahrtmission der Europäischen Weltraumorganisation ESA zum Jupiter. "Wir haben gezeigt , dass wir zwölf Jahre Bestrahlung auf dem Jupiter in 30 Minuten simulieren können!" freut sich Braccini.
Es trifft sich also sehr gut, dass medizinische Isotope in der Nacht produziert werden müssen, denn die Radiopharmaka haben eine Halbwertszeit von wenigen Stunden und müssen am nächsten Tag schnell zu den Patientinnen und Patienten gebracht werden. Das Spin-off-Unternehmen stellt F-18 für Fluordesoxyglukose (ein Glukoseanalogon) und andere Verbindungen her, indem es den 18-MeV-Protonenstrahl auf ein flüssiges Ziel aus stabilen Isotopen schiesst und diese in radioaktive Isotope umwandelt. Wenn diese Radioisotope einem Krebspatienten durch eine Flüssigkeit injiziert werden, sammeln sie sich in Bereichen des Körpers mit hoher Stoffwechselaktivität - ein nahezu sicheres Zeichen für einen Tumor - und können mit Hilfe eines PET-Scans sichtbar gemacht werden, einem weiteren Spin-off der Teilchenphysik für die medizinische Forschung.
Ohne Braccini und sein Team aus Wissenschaftler:innen, Ingenieur:innen und Studierenden würde das Zyklotron tagsüber ungenutzt stillstehen. "Es ist eine Win-WinSituation", erklärt er. "Wir können das Unternehmen schon tagsüber warnen, wenn etwas mit dem Zyklotron nicht in Ordnung ist, so dass keine wertvolle Produktionszeit verloren geht. Die Studierenden müssen alle Aspekte des Betriebs einer solchen Maschine erlernen - die Ionenquelle, die hochpräzise Strahlbehandlung, die Strahldiagnostik, die Experimente und ihre fortschrittliche Bildgebung. Es ist ein hervorragender Ort, um neue Generationen von Physiker:innen auszubilden." Seit dem Start im Jahr 2013 wurden rund 50 Arbeiten über die Arbeit am Zyklotron geschrieben, darunter fünf Doktorarbeiten und auch einige Maturaarbeiten.
Braccini findet den Aspekt, alle Feinheiten und technischen Details der Experimente zu verstehen und zu beherrschen, besonders wichtig. Als er Myonenkammern für das ATLAS-Experiment baute, fühlte er sich in der riesigen wissenschaftlichen Kollaboration mit mehreren Tausend Menschen nicht wirklich zu Hause, und merkte, dass er mehr an der Anwendungsseite der Teilchenphysik interessiert war. Sein ehemaliger Professor an der Universität Florenz, Ugo Amaldi, überzeugte ihn davon, in den Bereich der Hadronentherapie zu wechseln, auf dem Amaldi schon seit langem engagiert war, um Erkenntnisse der Teilchenphysik auf medizinische Anwendungen zu übertragen. Der Beitritt zum Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern und der Aufbau eines Dual-Use-Beschleunigers waren der nächste logische Schritt.
Und was ist mit der oben beschriebenen Idee, Therapie und Diagnostik in einem zu vereinen (unter dem Fachbegriff „Theranostik")? Sie befindet sich noch in der Testphase, ist aber in der Nuklearmedizin weltweit ein grosses Thema und könnte, wenn sie sich bewährt, die Krebstherapie revolutionieren. In enger Zusammenarbeit mit anderen Labors wie dem PSI oder dem CERN und zusammen mit Gruppen anderer Fachbereiche der Universität Bern entwickeln Braccini und sein Team Methoden für dieses neue Verfahren. Die Idee klingt überzeugend: Medizinische Isotope werden bereits an Biomarker angehängt, um an jene Stellen im Körper transportiert zu werden, die einen hohen Stoffwechsel aufweisen – also Tumore und Metastasen. Heutzutage können sie so die Lage der Krebszellen sehr genau bestimmen, was wichtig ist, wenn man sie behandeln will: Das gesunde Gewebe soll durch die Therapie so wenig wie möglich geschädigt werden. "Wenn wir Isotope herstellen können, die Strahlung in den Körper bringen, um die Krebszellen zu sehen, warum dann nicht auch Isotope, die Strahlung einbringen, um den Krebs zu heilen?", erklärt Braccini. Im Idealfall sollten diese beiden Isotope vom selben Element stammen, so dass sie beide mit demselben chemischen Verfahren an dieselben Biomarker gebunden werden können. Das Team arbeitet derzeit an theranostischen Radionukliden, insbesondere an der Kombination von Scandium-44 (einem Beta+-Strahler für die Diagnose) und Scandium-47 (einem Beta-Strahler für die Zellzerstörung). Die Forschenden haben bewiesen, dass sie die Isotope sowohl in ausreichender Menge als auch Qualität herstellen können, und sie hoffen, dass die Methode in den nächsten Jahren bei menschlichen Patienten in Krankenhäusern zum Einsatz kommen wird.