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Geheimnisvolles Teilchen: Schweizer Forschende sind dem Neutrino auf der Spur

Haben Sie schon mal von Neutrinos gehört? Neutrinos sind subatomare Teilchen, die in den nächsten Jahren für einige wissenschaftliche Furore sorgen dürften. Was diese scheuen kleinen Teilchen so besonders macht und wie Schweizer Physikerinnen und -physiker an der Entschlüsselung eines der hartnäckigsten Rätsel des Universums arbeiten, verrät Ihnen unsere Geschichte.

Der Super-Kamiokande-Neutrinodetektor ist ein riesiger Wassertank, umgeben mit Lichtsensoren. Eigentlich ist er bis oben gefüllt.
Bild: Kamioka Observatory/ICRR/University of Tokyo

Ein Neutrino kommt in eine Bar. Fragt der Barkeeper: "Was darf’s denn sein?" "Nichts, danke", sagt das Neutrino, "ich bin nur auf der Durchreise..."

Warum ist das lustig? Nun, weil es sich auf eine typische Eigenschaft von Neutrinos bezieht: Neutrinos, übrigens mit die am häufigsten vorkommenden Elementarteilchen, gehen durch alles hindurch und interagierten so gut wie nie. Das macht es für Forschende einerseits faszinierend und andererseits ziemlich schwer sie zu untersuchen. Denn wie soll man etwas untersuchen, das man nicht sehen, fühlen oder fangen kann, das in herkömmlichen Teilchendetektoren (die sonst sehr gut darin sind, unsichtbare Dinge sichtbar zu machen) nicht erscheint, das aber den Schlüssel zu einer Schatztruhe neuer Erkenntnisse über das Universum in sich birgt? Zum Glück gibt es da Methoden und Leute, die diese Methoden kennen. Wir nehmen Sie mit auf eine Reise in die Welt des Neutrinos und zu den Menschen, die sich mit ihm beschäftigen - darunter auch viele Schweizer Forschende.

Warum ist dieses winzige Ding denn eigentlich so eine grosse Sache? "Es gibt viele offene Fragen rund um das Neutrino", sagt Michele Weber, Professor an der Universität Bern. Sie sind zum Beispiel ein Kandidat für die Antwort auf die Frage, warum das Universum aus Materie und nicht aus Antimaterie besteht, obwohl beide beim Urknall in gleicher Menge entstanden sein müssen. Ein winziger Unterschied zwischen Teilchen und ihren Antiteilchen – die der Theorie zufolge in allen Aspekten ausser ihrer Ladung identisch sein sollten – erklärt das Ungleichgewicht, und die Forschenden glauben, dass Neutrinos zumindest dazu beitragen könnten, eine Erklärung dafür zu finden, warum die Materie über die Antimaterie dominiert.

Neutrinos sind auch Boten aus dem Weltall. Sie sind die ersten Teilchen, die aus explodierenden Sternen wie Supernovae herausfliegen, und wenn man sie auffängt, können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die frühesten Anzeichen eines grossen stellaren Ereignisses erkennen und es in seiner Gesamtheit beobachten. Die Beobachtung der Entstehung eines schwarzen Lochs und der Geburt neuer Sterne in nahezu Echtzeit würde uns meilenweit über unser derzeitiges Wissen über diese Prozesse im Weltall hinausbringen.

"Aber wie alle Elementarteilchen sind auch Neutrinos an sich schon faszinierend", sagt Weber, der wie seine Physik-Kolleginnen und Kollegen die Herausforderung liebt. "Neutrinos sind besonders faszinierend, weil sie so schwer zu messen sind. Wir kennen eine ihrer grundlegendsten Eigenschaften nicht - ihre Masse! Könnte es ein viertes Neutrino geben, oder neue Effekte, die über das Standardmodell der Teilchenphysik hinausgehen?" Sein Kollege von der Universität Genf, Professor Federico Sánchez, ist ganz seiner Meinung. "Es gibt viele Gründe, warum wir Neutrinos untersuchen sollten. Wir wissen nämlich zum Beispiel auch nicht, wie sie ihre Masse erhalten und warum sich dieser Prozess offenbar so sehr von der Art und Weise unterscheidet, wie andere Teilchen Masse erhalten", erklärt er. Sánchez und Weber sind auf der Suche nach Antworten, zusammen mit etwa 5000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt, darunter auch wichtige Akteure an mehreren Schweizer Universitäten und Instituten.

Was wissen wir denn eigentlich schon über sie? Neutrinos, die 1930 postuliert und in den 50er Jahren entdeckt wurden, sind ungeladene Teilchen. Sie sind sehr leicht und kommen in drei Arten oder "Flavours" vor. Diese Flavours sind direkt mit der Familie des Elektrons verbunden, dessen schwerere Vettern Myon und Tau heissen. Dementsprechend gibt es Elektron-Neutrinos, Myon-Neutrinos und, Sie haben es erraten, Tau-Neutrinos. Lange Zeit vermutete die Wissenschaft, dass Neutrinos gar keine Masse haben könnten, und so werden sie auch im Standardmodell der Teilchenphysik beschrieben, also der Theorie, die alle Elementarteilchen und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte zusammenfasst. Doch vor etwa zwanzig Jahren fand man den Beweis, dass Neutrinos von einem Flavour zum anderen wechseln können – ein Prozess, der als Oszillation bezeichnet wird. Dies wiederum bedeutet, dass Neutrinos nicht masselos sein können - aber welche Masse sie genau haben und welcher der drei Flavours der schwerste ist, bleibt ein Rätsel.

Erinnern Sie sich an den Witz vom Anfang? Die Tatsache, dass sie einfach durchreisen, ohne mit irgendetwas in Wechselwirkung zu treten, ist gar nicht witzig, wenn man versucht, Neutrinos zu untersuchen. Nur zur Veranschaulichung: Billionen von ihnen fliegen jede Sekunde durch Ihren kleinen Zeh, und nicht nur durch Ihren Zeh, sondern auch durch die Erde unter Ihren Füßen. Die meisten von ihnen durchqueren sogar den gesamten Planeten, ohne jemals mit der Materie zu interagieren. Aber es gibt eine Möglichkeit, die Chance zu erhöhen, eines zu sehen: man schickt viele von ihnen auf die Reise und baut riesige und hochempfindliche Detektoren mit viel Material, mit dem sie interagieren können und fängt alle Spuren auf, die bei so einer Wechselwirkung eines Neutrinos entstehen.

Und genau so funktioniert die Neutrinojagd hier auf der Erde. Eigentlich findet die Jagd nicht *auf* der Erde statt, sondern unterirdisch - in riesigen wassergefüllten Tanks unter Bergen und in alten Bergwerken, die mit Detektoren ausgestattet sind. Physikerinnen und Physiker haben diese Neutrinostrahl-Experimente tief unter der Erde entwickelt, weil sie äussere Einflüsse wie die kosmische Strahlung abschirmen wollen, um deutlichere Signale zu erhalten.

Eines dieser Experimente ist das "T2K"-Projekt in Japan. Neutrino- oder Antineutrinostrahlen werden von einer Forschungseinrichtung an der Ostküste Japans 295 km durch die Erde zum Kamioka-Observatorium in einem stillgelegten Bergwerk an der Westküste geschickt. Dort wartet ein mit Wasser gefüllter Tank, der so gross ist wie 20 olympische Schwimmbecken, in 1000 m Tiefe. Der Neutrinostrahl stammt von einem gepulsten Protonenstrahl, der pro Puls eine Billion sehr hochenergetische Neutrinos (oder Antineutrinos) enthält. Die meisten dieser Neutrinos verschwinden auf Nimmerwiedersehen – aber die, die interagieren, werden von Forschern wie Federico Sánchez untersucht. Er ist derzeit der internationale Sprecher der T2K-Forschungskollaboration, die aus rund 500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern besteht, und arbeitet an einem entscheidenden Teil des Experiments: dem Nahdetektor. Um zu verstehen, was mit dem Strahl auf seinem Weg passiert ist, muss man wissen, wie er am Anfang aussieht - deshalb gibt es 280 Meter von dem Punkt entfernt, an dem die Neutrinos erzeugt werden, diesen so genannten Nahdetektor.

"Der grösste Teil der Physik findet dort statt", sagt Sánchez. "Wir nutzen den Nahdetektor, um zu überprüfen, wie viele Teilchen es gibt und welche Energie sie haben, bevor sie sich umwandeln beziehungsweise oszillieren", erklärt er. Die Daten des Nah- und Ferndetektors werden dann verglichen, um die Oszillationen zu ermitteln, die dazwischen stattgefunden haben. Dies geschieht für zwei Datensätze: einen von Neutrinos und einen von Antineutrinos. Findet man einen Unterschied zwischen diesen beiden Datensätzen, ist dies ein Hinweis auf ein Ungleichgewicht, das der Schlüssel zu der Frage sein könnte, warum wir aus Materie und nicht aus Antimaterie bestehen. Die Forschungsergebnisse von Sánchez und seinen T2K-Kolleginnen und -Kollegen haben es 2020 sogar auf die Titelseite von Nature geschafft, weil es Hinweise auf einen ziemlich großen Unterschied gibt. Der Hinweis reicht nicht aus, um von einer eine Entdeckung zu sprechen, aber Sánchez und sein Team von der Universität Genf und andere Gruppen auf der ganzen Welt arbeiten derzeit an einem Upgrade, das gegen Ende dieses Jahres installiert werden soll. Mit der verbesserten Empfindlichkeit und mehr zu analysierenden Daten hoffen sie, dem Verständnis dieses Unterschieds näher zu kommen.

Physiker wären keine Physiker (und Physikerinnen keine Physikerinnen), wenn sie nicht nach noch besseren Detektoren, höheren Raten und Energien und viel mehr Daten streben würden. Deshalb werden derzeit zwei Experimente gebaut, die sich bei der Untersuchung des Neutrinos gegenseitig ergänzen: der HyperKamiokande-Detektor (HK) in Japan und das DUNE-Experiment in den Vereinigten Staaten. Beide sollen Ende des Jahrzehnts in Betrieb genommen werden. Die Universität Genf und die ETHZ sind an HK, dem Nachfolger von T2K, beteiligt und bringen ihr Know-how in den Nah- und Ferndetektor ein, der zehnmal grösser sein wird als sein Vorgänger und 500 000 Tonnen hochreines Wasser enthalten soll. Zur gleichen Zeit sind Michele Weber und sein Team von der Universität Bern damit beschäftigt, einen Prototyp für den Nahdetektor von DUNE zu bauen (in Zusammenarbeit mit 30 anderen Instituten aus der ganzen Welt).

DUNE, die Abkürzung für Deep Underground Neutrino Experiment, funktioniert nach dem gleichen Prinzip wie T2K: Ein Neutrinostrahl, der von einem Beschleuniger, diesmal am Fermilab in der Nähe von Chicago, erzeugt wird, wird zu einem Detektor in einer rund 1300 Kilometer entfernten Mine in South Dakota geschickt. Wenn er fertig ist, wird er und 70 000 Tonnen flüssiges Argon enthalten und der grösste Detektor seiner Art sein, der jemals gebaut wurde. Sowohl Nah- als auch Ferndetektor sind, wie ihre japanischen Gegenstücke, mit High-Tech vollgestopft. Der derzeitige Prototyp besteht aus Modulen, die 1 x 1 x 3 Meter messen - etwa 70 % der Grösse der endgültigen Version. Am Ende wird der Nahdetektor aus 35 dieser Module bestehen. Das Prinzip ist bei allen diesen Detektoren gleich: Wenn ein Neutrino mit einem Atom in der Flüssigkeit, die den Detektor füllt, wechselwirkt, erzeugt es Teilchen, die die Elektronen in den Atomen der Flüssigkeit herausschlagen. Diese Elektronen driften zu einem positiven Pol im Modul und werden dort von Pixelsensoren ausgelesen. Jede Art von Neutrino erzeugt Teilchen mit einer charakteristischen Signatur, und Programme helfen mit künstlicher Intelligenz dabei, sie aufzuspüren und von anderen Signalen zu trennen. "Dank des modularen Aufbaus können wir Neutrino-Wechselwirkungen sehr präzise messen und echte 3-D-Bilder der Spuren der geladenen Teilchen erhalten, die das Modul durchlaufen", sagt Weber. "Am Ende geht es in der Wissenschaft genau darum: 3-D-Bilder von physikalischen Phänomenen zu machen, um mehr über die Welt herauszufinden."

Die Neutrinophysik ist in der Schweiz nicht neu. Einige der wichtigsten Entdeckungen darüber, wie Neutrinos mit Materie wechselwirken, oder die genaueste Bestimmung der Anzahl der Neutrino-Flavours wurden am CERN gemacht. Schweizer Universitäten sind seit 2002 an der Suche nach Neutrino-Oszillationen beteiligt, mit Beiträgen zum K2K-Experiment in Japan (dem Vorgänger von T2K). Die Universität Bern war auch am OPERA-Experiment beteiligt, bei dem zum ersten Mal eine Umwandlung eines Myon-Neutrinos in ein Tau-Neutrino beobachtet wurde. Auch an Experimenten wie MINERvA- und MicroBooNE- in den USA, die zum Verständnis der Wechselwirkung von Neutrinos mit Materie beitragen, haben Schweizer Gruppen Beiträge geleistet.

Für die T2K- und K2K-Experimente erhielten Forschende der Universitäten Genf und Bern sowie der ETH Zürich 2015 den „breakthrough prize in fundamental physics“ als Mitglieder der Forschungskollaboration, die zum Nachweis von Neutrino-Oszillationen beigetragen hat.

Darüber hinaus sind die Gruppen der Universitäten Zürich und Neuchâtel an der Suche nach seltenen Zerfällen beteiligt, die Aufschluss über den Mechanismus der Massenerzeugung von Neutrinos geben könnten. Aber das ist eine andere Geschichte...

Der grösste Traum der Neutrino-Forschenden ist es jedoch, Beweise für Unterschiede im Verhalten der Neutrinos und Antineutrinos zu finden. In der Zwischenzeit werden die Daten der aktuellen Experimente ausgewertet und die neuen Systeme für den nächsten grossen Fang vorbereitet. Bleiben Sie dran, die Neutrinoforschung wird in den nächsten Jahren interessant bleiben!

Autorin: Barbara Warmbein für CHIPP

Selfie mit Test Facility: Neutrinoforscher Michele Weber präsentiert den gerade aus Bern am US-amerikanischen Fermilab angekommenen Kühltank, in dem später vier Detektormodule eingebaut werden.
Selfie mit Test Facility: Neutrinoforscher Michele Weber präsentiert den gerade aus Bern am US-amerikanischen Fermilab angekommenen Kühltank, in dem später vier Detektormodule eingebaut werden.Bild: Prof. M. Weber, Switzerland

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